Eine spezielle WM – ein Fazit

Heute endet die 2022er WM in Katar mit dem von vielen erwarteten Finale zwischen Frankreich und Argentinien. Die WM war in vielerlei Hinsicht speziell, vielleicht sogar bemerkenswert, und dürfte sich in dieser oder ähnlicher Form kaum wiederholen.

Da war zunächst die zeitlich sehr frühe Wahl bereits im Jahr 2010 von Katar als Austragungsort im Doppelpack mit dem Zuschlag für Russland (2018). Es regt sich im Nachhinein der Verdacht, dass eine günstige Komposition des FIFA-Wahlgremiums genutzt werden sollte, um sicherzustellen, dass Katar ausgewählt würde. Dass es bei der Wahl Katars nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, scheinen mehrere Untersuchungen und Berichte zu bestätigen.

Eine weitere Besonderheit der WM in Katar war ihre Austragung in mehr oder weniger einer Stadt bzw. einer urbanen Agglomeration – nämlich in Doha. Die größte Entfernung zwischen den Stadien beträgt 55km. Das machte es möglich während der Gruppenphase und der Achtelfinalrunde zwei Spiele pro Tag zu sehen, obwohl das bei Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln (und Taxen) ziemlich „sportlich“ war im Hinblick auf Logistik und Zeit. Aber auch für weniger ehrgeizige Fans (wie ich) war es aufgrund der geringen Entfernungen möglich jeden Tag ein Spiel zu sehen. Dadurch kam ich auf 13 Spiele in 14 Tagen, die ich netto vor Ort war. Was ich an Ausgaben für Transport zu den Austragungsorten in Katar einsparte, gab ich jedoch für die hohen Ticket-Preise wieder aus. In Russland kosteten die Flüge von Moskau nach Sotchi oder Kasan jeweils mehr als 250EUR, aber die Tickets in den Kategorien 2 und 3 waren für unter 100EUR zu haben. In Katar kosteten die Eintrittskarten für die Kategorie 1 (die von der Position her vergleichbar mit Kategorie 2 in Russland waren) zwischen 200 und 300 EUR, die für Kategorie 2 (vergleichbar mit Kategorie 3 in Russland) immerhin noch zwischen 120 und 180EUR. Kein Wunder, wenn die FIFA nun jubelt, dass die WM in Katar die bislang profitabelste in der Geschichte für den Verband gewesen ist. Die happigen Ticketpreise haben sicherlich dazu beigetragen.

Eine dritte Eigentümlichkeit der WM in Katar war der immense mediale Gegenwind, den sie besonders in Europa und hier in Deutschland, Holland oder Dänemark erfuhr. Das Interesse an der WM war in Deutschland noch nie so schwach wie dieses Mal. Wie wir durch Zufall herausfanden – ein Gespräch mit einem Journalisten während eines Spiels – hatte das wohl auch damit zu tun, dass deutsche Medien keine oder kaum Beiträge senden und veröffentlichen wollten, die nicht kritisch gegenüber Katar waren. Dadurch entstand nicht nur ein etwas verzerrtes Bild des Ausrichterlandes, sondern wurde auch die Bereitschaft in der deutschen Öffentlichkeit, die gute (wenngleich nicht begeisternde) Stimmung vor Ort aufzugreifen und den Fußball (der wurde ja auch noch gespielt!) zu genießen.

Das Stimmungstief wurde natürlich auch durch das frühe Ausscheiden der deutschen Mannschaft und die Austragung im europäischen Winter befeuert. Wer will schon gerne bei Glühwein und dick vermummt draußen in der Fan-Meile Spiele anschauen? Die Winter-WM hatte aber auch noch andere Konsequenzen. Kein Team (mit der Ausnahme Katars) konnte sich auf das Turnier vorbereiten. In allen wichtigen Ligen lief der Spielbetrieb bis eine Woche vor Beginn der WM. Das kam eingespielten Mannschaften zu Gute und hatte wohl auch zur Konsequenz, dass im Vergleich zu vorherigen Turnieren sehr wenig Tore nach Standard-Situationen fielen. Das war u.a. bei der deutschen Mannschaft zu beobachten, der es trotz unzähliger Ecken und einiger Freistöße aus guter Position nicht gelang, daraus einen Treffer zu machen. Und dies, obwohl doch schon seit einiger Zeit ein spezieller Trainer für Standard diese Schwäche beheben soll.

Ein weiterer besonderer Punkt ist, dass diese WM – obwohl von Katar ausgetragen und organisiert – rasch als „arabische WM“ adaptiert wurde. Somit kann nun auch die letzte große Weltregion für sich reklamieren, eine WM ausgetragen zu haben – nach Lateinamerika 1930, 1950, 1962, 1978 und 2014, Mittelamerika 1972 und 1986, Nordamerika 1994, Asien 2002 und Afrika 2010. Die meisten WMs fanden in Europa statt (1934,1938, 1954, 1958, 1966, 1974, 1982, 1990, 1998, 2006, 2018).

Wir hörten von verschiedenen Kataris, dass sie es besser gefunden hätten, wenn statt ihrer Mannschaft, eine andere, stärkere arabische Mannschaft als „Gastgeber“ fungiert hätte – sie schämten sich des Auftrittes des Teams aus Katar, der schwächsten Gastgeber-Mannschaft aller Zeiten. Vielleicht ist das auch der Grund, warum bei den Spielen Katars viele Zuschauer bereits zur Halbzeit das Stadion verließen. Bei vielen Spielen, die ich besucht habe, waren etliche Zuschauer (auch weibliche) aus Katar, die an ihren „Bademänteln“ (wie Sandro Wagner despektierlich-witzig sagte) erkennbar waren, zugegen und blieben bis zuletzt.

Als sozusagen „erste arabische“ WM gab es so gut wie keinen Alkohol – nur in der sogenannten Fan-Zone gab es Budweiser Bier (wenn man das Gesöff so nennen kann) zu exorbitanten Preisen: fast 14 EUR für einen halben Liter! Das war zunächst gewöhnungsbedürftig, am Ende aber gar nicht so schwer zu ertragen. Vielleicht ist es vergleichbar mit dem Rauchverbot in Kneipen und Restaurants, das bei der Einführung auch Kassandra-Rufe zum unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Gaststättengewerbes nach sich zog. Zumindest gab es bei dieser WM keine Ausschreitungen angetrunkener Fans und selbst die an geschmacklosen Gesängen sonst kaum zu überbietenden englischen Fans blieben ruhig.

Der letzte bemerkenswerte Punkt, den ich ansprechen möchte, ist der sich abzeichnende sportliche Systemwechsel, der dazu beitragen könnte, dass sich die Gewichte im Welt-Fußball zu verschieben beginnen. Spätestens seit Spanien die EM 2008 mit dominantem Ballbesitz-Fußball und aggressivem Pressing gewann, dominierten mit wenigen Ausnahmen Teams auf nationaler und Club-Ebene, die einen ähnlichen Stil bevorzugten. Frankreichs Titelgewinn bei der WM 2018 war jedoch das erste Anzeichen, dass dieser Spielstil nicht mehr unangefochten war; die WM in Katar läutete nun – zumindest für Nationalmannschaften – dessen Ende ein. Deutschland mit Ballbesitzwerten von 70%, aber einer unsortierten, fast schon offenen Abwehr, schied gegen eine Fußball-Mittelmacht wie Japan in der Gruppenphase aus, die bei schnellen Kontern extrem effektiv war; Spanien – quasi das Mutterland des Tiki-Taka Besitzfußballstils – verlor gegen ein extrem defensiv-starkes Marokko im Achtelfinale; und selbst Brasilien, das in der Stil-Anpassung schon weiter schien, konnte sich im Viertelfinale nicht gegen Kroatien durchsetzen, das ebenfalls auf eine solide Abwehr und schnelle Konter setzte. Weitere Opfer der verstärkten Defensive wurden Belgien (Gruppenphase), Engalnd (Viertelfinale) und Portugal (Viertelfinale).

Dass spielerisch eher limitierte Mannschaften, die aber konterstark waren, wie Japan (bis ins Achtelfinale), Südkorea (Achtelfinale), Senegal (Achtelfinale) oder Marokko (Halbfinale) dagegen vergleichsweise reüssierten und sich mit Argentinien und Frankreich zwei Teams im Finale gegenüberstehen, die für abwehrstarkes Konterspiel mit kurzen Dominanzphasen stehen, unterstreicht den Spiel- und Systemwandel. Dies wurde u.a. dadurch möglich, dass seit einigen Jahren viele Spieler aus diesen Ländern in den starken europäischen Ligen spielen, wo sie sich neben Wettkampfhärte vor allem taktisch-strategische Finessen aneigneten.

Mal sehen, ob Deutschland seine nicht übersehbaren Defizite in der Abwehr abstellen und in der Offensive effizienter werden kann – dann hätte wir auch wieder eine Chance.

Ach ja, ich tippe im Finale auf einen knappen Sieg der Franzosen.

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